Physiotherapie bei Patienten mit Multiple Sklerose

Artikel für physiopraxis
Jahrgang 1 - Ausgabe Dezember 2003 :: Thieme Verlag

Krankheitsbild:

Die Multiple Sklerose ist eine schubförmig oder progredient verlaufende, multifokale Entmarkungserkrankung des ZNS unklarer Ätiologie.

Die Ursache der Erkrankung ist bis zum heutigen Tag noch immer nicht geklärt. Nach heutigem Wissensstand handelt es sich um eine erworbene Autoimmunerkrankung bei genetisch bedingter Erkrankungsanfälligkeit nach einer Virusinfektion. Der Ablauf-mechanismus der Erkrankung ist ebenfalls nicht restlos geklärt. MS-Herde im Gehirn und Rückenmark treten in Schüben auf. Bei frischen Herden entstehen Entzündungsprozesse, die zur Zerstörung der Myelinscheiden führen. Als Folge davon wird die Weiterleitung von Nervenimpulsen gestört. Prinzipiell können Entmarkungsherde im ZNS bei entzündlichen Entmarkungskrankheiten durch zwei verschiedene Mechanismen erzeugt werden:

a) durch eine primäre Schädigung der Oligodendrozyten (verantwortlich für die Versorgung der Myelinscheiden) mit Zelldegeneration und sekundärer Entmarkung. In diesem Fall ist die Entzündungsreaktion nicht ursächlich für die Entmarkung verantwortlich.
b) Durch eine Immunreaktion gegen eines oder mehrere Antigene der Myelinscheide. In diesem Fall ist die Immunreaktion, und damit die Entzündung, die Voraussetzung für die Entmarkung. Ein solcher Mechanismus muss nicht gegen Autoantigene, sondern kann auch gegen Fremdantigene (Virus?), die in der Membran eingebaut sind, gerichtet sein. [Kesselring 1989]

Stadieneinteilung der MS:

  1. Entzündung ohne Demyelinisierung mit klinisch schneller Rückbildung der Symptome innerhalb von Tage.
  2. Entzündung und Demyelinisierung mit Funktionsverlust für Wochen bis Monate, die Rückbildung erfolgt durch Remyelinisierung.
  3. Gewebszerstörung und Axonverlust führt schließlich zum definitiven Funktionsverlust.
  4. Remyelinisation durch Oligodendrozyten bewirken eine Wiederherstellung der Myelinscheiden, wodurch das betroffene Axon seine volle Funktionsfähigkeit wiedererlangt.
  5. “Ruhender” Plaque bzw. Glianarbe, bei der, nach abgelaufener Entzündung und Demyelinisation, keine Remyelinisation und kein Axonverlust stattgefunden haben. Klinisch ist ein bleibendes Defizit mit Restfunktion vorhanden. [Lassmann 1983]

Symptome und typischen Probleme der MS-Patienten:

Die häufigsten ersten Krankheitszeichen sind nach ihrer Wertigkeit geordnet: Kraftlosigkeit, Gefühlstörungen, Sehnervenentzündung, Doppelbilder, Gangunsicherheit, Trigeminus-schmerzen und in seltenen beginnend mit Blasenstörungen.

Die Ursache aller Symptome beruht auf dem Tatbestand, dass die Erregungsleit-Geschwindigkeit der demyelinisierten Nervenfasern abnimmt oder im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr besteht. Sowohl motorische wie sensible Leitungsbahnen nutzen eine sehr hohe Leitgeschwindigkeit, damit unser Organismus entsprechend angepasst auf äußere wie innere Bedingungen und Umständen reagieren kann.

Am Beispiel Gleichgewicht läst sich das veranschaulichen: Bei Verlust des Gleichgewichts beim Gehen (Stolpern wegen einer Unebenheit am Boden) reagieren unsere “Systeme” im zentralen und peripheren Nervensystem innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde mit komplexen automatisierten Bewegungsmechanismen, den sogenannten Gleichgewichtsreaktionen, die entweder einen Sturz verhindern, oder Schutzreaktionen, die ein unvermeidliches Hinfallen ohne ernste Verletzung bewerkstelligen. Die ebenso wichtigen sensorischen Feedback-Kontrollen sorgen in jeder Phase der Bewegungen für den entsprechenden koordinierten flüssigen und jederzeit beeinflussbaren Ablauf. Jede kleinste Abweichung in der Weitergabe der Informationen führt in diesem komplizierten Zusammenspiel zu erheblichen Störungen der Funktionsfähigkeit, in diesem Beispiel zur Gangunsicherheit. Der Betroffene kann sich nicht mehr auf seine automatischen Bewegungsmuster verlassen, bzw. ob diese ihm schnell genug zur Verfügung stehen.

Weitere häufige Probleme sind:

  • Kraftverlust in Folge von Muskelschwäche
  • Spastizität auf Grund von andauerndem Hypertonus in stereotypen Bewegungsmustern
  • Ataxie durch Kontrollverlust aus dem Zerebellum
  • Rasche Ermüdbarkeit und Energieverlust
  • Sensibilitätsstörungen und Missempfindungen verursacht durch sogenannte “Kurzschlüsse” der entmyelinisierten Axone [Kesselring 1989]
  • kognitive Störungen wie Merkfähigkeits- und Konzentrationsstörungen
  • Kontrakturen durch unphysiologische Dauerpositionen und unphysiologische Alltagsbewegungen
  • Blasen- Darmprobleme hervorgerufen durch Herde im spinalen Bereich des ZNS
  • Schluck- und Sprachstörungen ausgelöst durch Herde im Hirnstammbereich
  • ödeme und andere Kreislaufstörungen, vegetative Störungen, Schmerzen, Druckstellen bis hin zum Dekubitus, Osteoporose, sowie herabgesetzte Lungenfunktion / Atemkapazität alle verursacht durch Inaktivität, mangelnde Mobilität und Verlust der physiologischen täglichen körperlichen Aktivitäten.

Für viele diese Probleme sind medikamentöse Behandlungen zur Linderung der Symptome angezeigt, die Nebenwirkungen miteinkalkuliert. Aber kein Medikament beeinflusst effizient die Inaktivität und damit die vermeidbaren Komplikationen. Wissenschaftliche Studien lassen keinen Zweifel aufkommen, dass die physiotherapeutischen Maßnahmen für die Behandlung der MS unerlässlich sind.

Ausdauer und Auswirkungen auf den Verlauf der MS

Mit zunehmenden Problemen beim Gehen nimmt leider die Gehstrecke immer deutlicher ab. Oft können die Patienten kurze Strecken unauffällig gehen, aber durch die schneller einsetzende Müdigkeit treten die Gangstörungen auf und machen das Gehen mühsam. Logische Folge, die Betroffenen legen mit der Zeit nur noch die notwendigsten Strecken zurück, meiden Spaziergänge, weil sie das normale Tempo nicht mithalten können oder schämen sich, wenn sie anfangen zu hinken. Die Kondition und körperliche Fitness nehmen ab, die normale körperliche Beanspruchung findet nicht mehr statt. Die meisten Patienten wollen “ihre Erkrankung” solange wie möglich für sich behalten. Das scheint für mich auch einer der viel zu wenig beachteten Mechanismen zu sein, der den schubhaften Verlauf der MS oftmals zu einem vermeintlich chronisch progredienten Verlauf werden lässt. Leider hinterlassen die meisten Schübe im Verlauf der Erkrankung irreversible Schäden und Defizite. Bei auftretenden ataktischen Bewegungsstörungen wird das besonders deutlich, weil die Koordination und damit insbesondere die Feinmotorik betroffen sind. Die Geschicklichkeit geht verloren. Das Gehen gleicht dem Gang eines Betrunkenen, obwohl die Defizite noch nicht erheblich sind.

Komplikationen und Begleiterkrankungen bei der MS - die größte Gefahr ist die Inaktivität! [Lassmann 1983]

Meine physiotherapeutische Behandlung basiert auf fünf Säulen, die in den alltäglich Ablauf eingebaut werden müssen:

1. Bewegung /Mobilisation

Sie ist mit das Wichtigste, um das Bewegungsausmaß und Bewegungsrepertoire orientiert an der normalen Bewegung aktiv, aktiv assistiv und wenn notwendig passiv zu erhalten und zu erweitern und vor allem ständig das Bewegungsgefühl zu vermitteln. Schließlich bedeutet für uns Bewegung: Sich-Fortbewegen und die uns typische Fortbewegung ist das Gehen oder jetzt das immer mehr aufkommende Laufen oder Joggen. Der größte Wunsch vieler meiner Patienten ist, wieder gehen zu können. So ergibt sich die Konsequenz für die Behandlung, alle Strukturen des Körpers für die Aufgabe Gehen vorzubereiten und zu erhalten. Spezielle Behandlungskonzepte und Techniken wie Spezifisch inhibitorische Mobilisation des Muskelgewebes, Mobilisation der Neuromenigealen Strukturen und Mobilisation der Faszien sind äußerst effizient und ermöglichen bei biomechanisch verändertem Gewebe eine Reorganisation der Strukturen und können damit Kontrakturen sogar beseitigen.

2. Balance-/ Gleichgewichtstraining

Schon bei den ersten leichten Gangunsicherheiten sollte so früh wie möglich im Rahmen der Physiotherapie gezieltes Balancetraining mit den Patienten durchgeführt werden, um Kompensationsmechanismen vorzubeugen, die einen unnötig raschen Abbau der Gleichgewichtsreaktionen verursachen. So ist es für den Patienten automatisch tägliches Training, wenn er sich im Stehen an- und auszieht insbesondere Schuhe, Socken und Hosen, dabei kann er sich für den Fall das Gleichgewicht zu verlieren vor eine Wand oder in eine Ecke vom Zimmer stellen. Je nach Behinderungsgrad, vor allem wenn die Patienten beginnen mit Hilfsmitteln zu gehen, muss das freie Stehen in korrekter Ausrichtung der Körperlängsachsen und Einstellung der Beinachsen durch den Therapeuten in jeder Behandlung abverlangt werden. Ebenso wichtig ist die freie Sitzbalance, damit der Patient möglichst lange seine Hände für feinmotorische Tätigkeiten einsetzen zu können. Leider werden die Hände sehr früh bei Gleichgewichts-störungen überwiegen zum Stützen und damit zum Stabilisieren des Rumpfes eingesetzt und verlieren dabei ihre Geschicklichkeit. Gleichgewichtsreaktionen begleiten jede motorische Aktivität des Menschen. Ohne Gleichgewicht ist keine Funktion möglich.

Training von funktionellen Aktivitäten

Täglich notwendige Bewegungsübergänge, sollen ökonomisiert oder wiedererlernt werden, um der Spastizität entgegenzuwirken. Z.B. Aufstehen aus dem Bett beinhaltet den übergang RL - Sitz, Sitz - Stand. Etwas vom Boden aufheben heißt Stand - Hocke - Stand, der Oberkörper bewegt sich unabhängig von den Füßen in Beugung, Hüfte und Knie gehen ebenfalls in Beugung, um die Distanz auszugleichen. Die tägliche Körperpflege beinhaltet nahezu alle physiologischen Bewegungsmuster. Es sind keine einzelnen ausgedachten übungen notwendig, sondern die schlichte tägliche Funktionalität zeigt uns alle für den Patienten notwendigen komplexen Bewegungen, die im Gehirn als Pattern mit dem dazugehörigen Kontext abgespeichert sind. Das normale An- und Ausziehen setzt Balance (Einbeinstand sicher), Feinmotorik (Hände), Mobilität in allen Gelenken, Sensibilität (Lage- und Berührungsempfinden), kognitive Leistungen wie Handlungsplanung, Wahrnehmung (Raumorientierung und Körperperzeption) und visuelle Kontrolle voraus. Es empfiehlt sich, mit dem Patienten in den für Ihn schwierigen oder kaum mehr möglichen Tätigkeiten Strategien zu erarbeiten und mit den notwendigen Hilfsmittels dann zu automatisieren.

4. Stehtraining

Mit dem täglichen Stehtraining kann den Patienten die größte Prophylaxe für drohende Sekundärschäden gegeben werden. Stehen ist die Voraussetzung für das Gehen. Leider verlieren die Patienten im fortschreitenden Krankheitsverlauf zunehmend das Stehen. Kraftverlust, mangelndes Gleichgewicht, Ataxie und Verkürzungstendenzen vor allem in den Knie- und Hüftflexoren erschweren das Aufstehen. Wenn man die Dauer des Stehen mancher Patienten zusammenrechnet wird man von dem Ergebnis betroffen sein: mit sämtlichen Transfers aus dem Bett zum Stuhl auf die Toilette etc. wird das Stehen insgesamt nicht länger als 15 bis 20 min. pro Tag ausmachen. Viel zu wenig für den Organismus, um funktionsfähig zu bleiben. Die Transfers werden selbst mit Hilfe immer schwieriger oder schließlich unmöglich. Das Stehen bedeutet für den Patienten als normale Haltung und Funktion auch Wohlgefühl und Selbstbestätigung, dass das Stehen immer noch möglich ist, auch wenn Hilfsmittel (Stehbarren, Wandstanding oder dorsale Knieschienen) ihm dies ermöglichen. In der Physiotherapie kann durch angepasstes Management dem Patienten das Stehen so erleichtert werden, dass die Dauer wieder auf Stunden pro Tag ausgedehnt werden kann. Durch die Schwerkraft erfährt das ZNS über die Gelenke Bänder und Muskeln einen wichtigen propriozeptiven Input. Es reduziert anhaltend für Stunden die Spastizität vor allem in der unteren Extremität. Durch die Einwirkung der Schwerkraft auf das gesamte Skelett verhindert es die Entkalkung (Osteoporoseprophylaxe). Die aufrechte Position des Thorax wirkt sehr positiv auf die Atmung, das Zwerchfell kann sich besser bewegen und die Rippen können sich freier heben und senken. Druckgefährdete Körperregionen werden während des Stehens völlig entlastet (Dekubitusprophylaxe). Der intraabdominelle Druck im Stehen unterstützt und verbessert die Blasen- und Mastdarmentleerung. Im Stehen können ideal Gleichgewichtsreaktionen angebahnt und geschult werden.

5. Lagerung

Leider wird diesem Aspekt in der Behandlung zu wenig Beachtung geschenkt. Das Gehirn ist 24 Stunden im Einsatz, d.h. 24 Stunden werden Afferenzen verarbeitet. Wir wissen, dass wir im Schlaf hin und herbewegen. Der Grund sind Afferenzen, die eine unbequem gewordenen Dauerstellung durch Bewegung (Efferenzen) verändern. MS-Patienten können teilweise nicht mehr wirkungsvoll ihre Haltungen verändern (Spastizität, Ataxie, Kontrakturen oder Lähmungen). Ungünstige Dauerpositionen überwiegend im Sitzen verstärken oft noch den Hypertonus und die Verkürzungstendenzen. Der Patient kämpft im Sitzen gegen den Einfluss der Schwerkraft an, ermüdet und sinkt in seine verkrampfte Fehlhaltung. Um dem Betroffenen eine physiologische Sitzhaltung zu ermöglichen, müssen ihm entsprechende Unterstützungsflächen in Form Kissen, Packs oder Tisch zur Abnahme der Schwerkraft angeboten werden. Im Liegen möglichst auf der Seite solle darauf geachtet werden, dass ein Bein in Hüfte und Knie extendiert liegt, um der Beugetendenz der häufigen Sitzposition entgegen zu wirken und ein Bein in Hüfte und Knie gebeugt und abgespreizt liegt. Die Bauchlage zeitweise eingenommen beugt der Rumpfflexion vor. Die Entspannungslage nach Dr.Read ist für viele Patienten der ideale Kompromiss, wenn die reine Bauchlage für die Halswirbelsäule und Lendenwirbelsäule zu großen Stress (Hüftbeuger verkürzt) bedeutet, aber die Abspreizung im Hüftgelenk sehr effektiv erhalten werden kann. Die Rückenlagerung ist für viele Patienten zwar die bevorzugte Lage beim schlafen, wirkt sich jedoch ungünstig auf die Tonuslage aus. Patienten kommen oft nur mit großer Anstrengung aus dieser Position, weil die Bauchmuskulatur meist zu insuffizient ist und der Strecktonus durch diese Dauerposition begünstigt wird. Durch die Lagerung haben wir die Möglichkeit, den Patienten über längere Zeit einen physiologischen Input zu geben, der sich äußerst positiv auf Kontrakturen, drohende Verkürzungstendenzen, Spastizität und Ataxie auswirkt. Die Lagerung muss bequem, sicher und entlastend sein.

Spezielle Behandlungstechniken

Alle entzündlichen, traumatischen und degenerativen Veränderungen am ZNS führen zu einer erhöhten Spannung im gesamten Nervensystem [David Buttler Neurotension in the Nervous System 1990]. Das zentrale Nervensystem hängt mit dem peripheren Nervensystem unmittelbar zusammen. Wenn wir im Langsitz unsere dorsale Beinmuskulatur dehnen und dabei die Füße noch im Wechsel in Dorsalextension und -flexion bringen, mobilisieren wir automatisch unser gesamtes Nervensystem bis hin zum Gehirn. Mit jeder Bewegung, die das volle Bewegungsausmaß ausschöpft erhält das Nervensystem die für seine Funktionsfähigkeit notwendige Mobilisation und Versorgung. Das typische steife Gefühl am Morgen nach dem Aufstehen wird durch das weniger Bewegen über Nacht im Nervensystem verursacht. Automatisch räkeln und dehnen wir uns und mit jeder Bewegung wird die Steifigkeit weniger.

Entsprechend den anatomischen Verläufen der peripheren Nerven wird die Extremität in die Stellung gebracht und jeweils nur über ein Gelenk (Ellenbogen- oder Handgelenk) nur soweit bewegt, bis ein Spannungsgefühl/Widerstand spürbar wird. Durch die wiederholte Bewegung reduziert sich der Widerstand und das Bewegungsausmaß erweitert sich. Diese Vorgehensweise kann bei allen Nervenstrukturen also auch bei vegetativen Nervenstrukturen angewandt werden.

Die Spezifische inhibitorische Mobilisation wendet eine graduierte Dehnung direkt am Muskel an, um die Längenanpassung der Muskulatur wieder zu erreichen und damit dem Auftreten von sogenannten assoziierten Reaktionen, ausgelöst durch Dehnung vorzubeugen.

über den direkten Kontakt zum Muskel wird gleichzeitig ein propriozeptiver Input gegeben, der den Lernprozess beinhaltet, den Muskel aktiv exzentrisch (verlängernd) zu arbeiten. Das physiologische Bewegungsgefühl wird dabei angebahnt und automatisiert. Die Patienten empfinden anschließend ihre behandelten Körperregionen spannungsfrei und leichter.

Wärmeanwendungen bei MS

Hier möchte ich auf das Uhthoff-Phänomen hinweisen: Durch Erhöhung der Körpertemperatur kommt es zur Verstärkung bestehender klinischer Symptome oder zur Ausbildung von neuen (Kesselring Kohlhammer 1989). Der Grund ist die Schädigung an den Myelinscheiden und dadurch der nicht mehr intakten Isolierschicht, die wiederum die Reizleitung beeinträchtigt. Ein gesunder Nerv hat bei einer Körpertemperatur zwischen 36,5°C und 37,5°C seine optimale Leitungsgeschwindigkeit. Darüber und darunter nimmt die Leitungsgeschwindigkeit ab und die Reizübermittlung verzögert sich, was sich in der motorischen Leistungsfähigkeit niederschlägt. Extreme Unterkühlung führt zur Bewegungsunfähigkeit so geschehen bei Opfern der Mt. Everest Expeditionen [GEO 6/2003]. Der geschädigte Nerv reagiert wesentlich heftiger: schon eine Körpertemperatur von 37,5°C, ausgelöst durch einen Infekt, kann zur Blockierungstemperatur (Kesselring Kohlhammer 1989) führen. Der Nerv hat keine Leitungsfähigkeit und es findet keine Reizübertragung mehr statt. Der z.B. noch gehfähige Patient kann solange die Körperkerntemperatur erhöht ist (37,5°C und mehr) u.U. nicht mehr gehen. Jedes warme Bad über 30°C auch Sonnenbad und heiße Tage können zu einer Erhöhung der Körperkerntemperatur führen und dieses Phänomen auslösen.

Akuter Schub was muss in der Physiotherapie beachtet werden

Dauert ein Symptom einer neurologischen Funktionsstörung länger als 24 Stunden und remittiert nach einer gewissen Zeit, so gilt dies als Ausdruck eines Schubes, unabhängig davon, ob es objektiv als Befund oder nur als anamnestische Angabe erfasst werden kann. Als Remission wird einen eindeutige Besserung von Symptomen oder Untersuchungsbefunden bezeichnet, welche länger als 24 Stunden bestanden haben. Eine Remission ist nur dann signifikant, wenn sie mindestens einen Monat lang anhält %span.tinytext [Kesselring 1989]. Als Physiotherapeut haben wir eine umfassende Beurteilungsmöglichkeit der uns anvertrauten Patienten, kennen und behandeln wir sie doch regelmäßig teilweise über Jahre. Dem Arzt stehen nur eine kurze Momentsituation und die subjektiven Angaben des Patienten zur Verfügung. Stellen sich nach unseren und den Beobachtungen des Patienten tatsächlich eine Verschlechterung der Symptome oder neue Funktionsstörungen dar, ist es wichtig zu wissen, wie lange sie schon bestehen. In der frühen Phase der Erkrankung ist die medikamentöse Therapie in Form von hochdosierter Cortisongabe intravenös über drei bis fünf Tage maximal 10 Tage das Mittel der Wahl, um die Entzündungsprozesse so schnell wie möglich zu stoppen bzw. einzudämmen. In der Regel ist eine schnelle Erholung der Symptome zu erwarten. Leider nimmt dieser Effekt im Verlauf der Erkrankung je öfter die Cortisongaben wiederholt werden und die Intervalle zwischen den Schüben nur Monate betragen, ab. Keinen Effekt hat die Cortisontherapie, wenn nur ein Verdacht eines Schubes besteht. In der Phase der akuten, frischen Entzündungsherde müssen die Mobilisationstechniken insbesondere der Nerven-strukturen nur äußerst vorsichtig ohne zusätzlichen Dehnungsstress auszulösen durchgeführt werden. Die Belastbarkeit des Patienten ist u.U. deutlich reduziert, sodass die notwendigen Behandlungsschritte wie: die täglich notwendigen Bewegungsübergänge, das Steht- und Balancetraining, Körperpflege aktiv assistiv oder sogar passiv durchgeführt werden. Mit passiv verstehe ich, dass die Ativität vom Therapeuten ausgeht, der Patient ist aktiv dabei muss aber nicht angestrengt mitarbeiten.

Literatur:

  1. Burnfield, A.: Multiple Sklerose: Ein Erfahrungsbericht, Stuttgart: Gustav Fischer 1988.
  2. Butler, D. S.: Mobilisation des Nervensystems, Berlin Heidelberg: Springer 1995.
  3. Davies, P. M.: Wieder Aufstehen; Berlin Heidelberg: Springer 1995.
  4. Davies, P. M.: Right in the Middle, Berlin Heidelberg: Springer 1990.
  5. Kesselring, J.: Multiple Sklerose, Stuttgart: Kohlhammer 1989.
  6. Paeth Rohlfs B.: Erfahrungen mit dem Bobath-Konzept, Stuttgart: Thieme 1999.
  7. Wötzel, Wehner, Pöllmann, König: Therapie der Multiplen Sklerose, Ein interdisziplinäres Behandlungskonzept, München: Pflaum 1997.